Der Spitzenschuh – Vortrag über eine „kleine Wissenschaft“

Auf die Spitze getrieben

Futaba zieht vorsichtig die neuen Spitzenschuhe aus der Verpackung, legt sie vor sich auf den Boden, steht auf und stampft fast brutal mit ihren Füßen auf die harten Kappen der Schuhe ein. Anschließend knetet sie die Schuhe kräftig mit den Händen. Mit einer großen Schere entfernt sie Gummibänder. Wenig später reißt sie die Innensohle aus dem Schuh und schneidet einen Teil der Sohle ab.

Die im Studio 1 erschienenen, nun offenkundig etwas ratlosen Ballettfreunde beobachten dies über den Monitor, der Futubas Schuh-Misshandlung im Großformat überträgt.

Eva Zamazalová begründet diesen brachial wirkenden Umgang mit den fabrikneuen Schuhen:

„Jede Tänzerin schafft sich ihren eigenen Schuh. Sie hat jahrelang optimiert und weiß, was ihr Fuß braucht, damit sie sich in dem Schuh so wohl wie möglich fühlt. Der Spitzenschuh ist nicht nur ein Arbeitsschuh, er ist ein Teil der Tänzerin, wenn sie tanzt. Im Idealfall ist es eine Verlängerung ihres Beines und kein Fremdkörper.“

Eva, die selbst siebzehn Jahre als Ballerina getanzt hat, hält ein Paar Spitzenschuhe in die Höhe: „Eine Reliquie. Das sind meine letzten eigenen Schuhe, als ich aufgehört habe aktiv zu tanzen. Seit 20 Jahren hängen sie bei mir in der Wohnung. Ich kann mich nicht davon trennen.“

Das Verhältnis der Tänzerinnen zu ihren Spitzenschuhen ist also etwas ganz Besonderes. Eine enge, fast intime Beziehung entsteht durch den Prozess der individuellen Anpassung des Schuhs an die Anatomie seiner Trägerin.

Eva:
„Es ist wichtig, dass die Tänzerin einen Schuh hat, der zu ihrem Fuß, zu ihrer Anatomie passt. Wenn ich den passenden Spitzenschuh finde, habe ich die beste Voraussetzung am besten zu tanzen. Das ist kein Schuh, den sich eine Kollegin ausleihen kann. Der Schuh ist nicht Teil des Kostüms. Wenn der Schuh nicht passt, sind Blasen das kleinste Problem. Es treten tiefliegende Schmerzen auf, die auch chronisch werden können. Schmerzt der Schuh während der Aufführung, kann man sich nicht konzentrieren und hat keine Stabilität. Die Tänzerin muss sich auf ihren Schuh verlassen können.“

Andererseits muss der Prozess der Anpassung ständig wiederholt werden, weil der Spitzenschuh – insoweit doch ein Arbeitsschuh – nur eine kurze Lebensdauer im Ballett und auf der Bühne hat. Die Ballettfreunde erfahren, dass ein Spitzenschuhpaar, das um die 70 Euro kostet, manchmal schon nach einer einzigen anstrengenden Vorstellung verschliessen ist. Futuba sagt, dass bei ihr ein Paar etwa eine Woche halte.
Bei 25 aktiven Tänzerinnen in der Compagnie lassen sich der Jahresschuhverbrauch und die damit verbundenen Kosten leicht überschlagen.

Eva reicht Spitzenschuhe herum, damit die Ballettfreunde sich mit dem Material ausgiebig „befassen“ können. Auf der Unterseite sind die Namen der Tänzerinnen eingeprägt, die die Schuhe für sich geformt haben. Da liest man „Dias“ und „Kato“.

Werbung der Firma Bloch UK Ldt.

Wie und wann kam der Spitzenschuh überhaupt zum Ballett?

Eva schildert die historischen Zusammenhänge vom Ende des 18. Jahrhunderts an. Erst der Spitzenschuh mit seiner (im Laufe der Zeit immer härter gewordenen) Kappe ermöglichte es Tänzerinnen, sich zu „erheben“ und damit quasi zu schweben. Marie Taglioni gilt als eine der ersten Tänzerinnen, die en pointe getanzt haben. Allerdings waren ihre Schuhe noch modifizierte Satinpantoffel, in denen man heutzutage zur Schonung von Zehen und Gelenken nicht auf Spitze tanzen würde.

Der Spitzenschuh dient aber in der modernen Choreographie nicht mehr ausschließlich zur Verklärung und Erhebung der Tänzerin. Er wird nicht selten als Waffe und Bedrohung eingesetzt, wie wir etwa in Balletten von Martin Schläpfer sahen und aktuell auch in „Krabat“ von Demis Volpi erleben.

Futaba Ishizaki als Kantorka in „Krabat“

Zusätzlich zur Historie des Spitzenschuh gibt es interessante Informationen zur Herstellung der Schuhe. Ein Video der weltbekannten Firma „Freed of London“ zeigt die rund 100 Arbeitsschritte, die von den spezialisierten Schuhmachern für die Herstellung eines Schuhs absolviert werden müssen. Pro Tag schafft ein Schuhmacher von „Freed of London“ rund 40 Paar Spitzenschuhe.
Tänzerinnen haben die Möglichkeit, ihre ganz speziellen Wünsche schon vor der Anfertigung der Spitzenschuhe anzumelden.

Selbst der für den Aufbau des Schuhs zuständige Schuhmacher lässt sich bei „Freed of London“ auswählen.

Wer das Video aus der Manufaktur noch einmal sehen möchte, kann es auf YouTube unter
www.youtube.com/watch?v=-zExmSmO35Q
abrufen.

Der überaus kurzweilige Vortrag von Eva geht zu Ende mit einem Video und dem Beweis, dass auch Männer fantastisch auf Spitze tanzen können.
Les Ballets Trockadero de Monte Carlo ist eine ausschließlich aus Männern bestehende Drag-Truppe, die klassische und romantische Ballette brillant und sehr komisch parodiert. Auch hier lohnt sich ein Blick in die Archive von YouTube.

Der Abend war – dieses plumpe Wortspiel sei noch erlaubt – spitzenmäßig.

Text: Axel Weiss; Fotos: Renate Weber-Zangrandi (3), Ingo Schäfer für Ballett am Rhein (2), Bloch UK Ltd., Freed of London