Wie entsteht die Audiodeskription einer Ballettvorführung?

„Wir wollen vor dem inneren Auge ein Bild herstellen.“

„Der Vorhang hebt sich zur halbdunklen Bühne. Rechts wartet steif die Salongesellschaft. Von links slidet Baal herein. Mit einer Körperwelle steht Baal auf. Baal springt in eine Pirouette und landet auf einem Knie, den Kopf gebeugt, die Arme gespreizt.“

So beginnt die Audiodeskription des Stücks „Baal“ von Aszure Barton, das zurzeit im Theater Duisburg gezeigt wird. Verfasst haben den erläuternden Text Linda Wolf, Mareike Fiege und Yasha Müller, die zu dem Team gehören, das im Rahmen der Audiodeskription Ballettwerke für blinde und sehbehinderte Menschen erfahrbar, also hörbar und auch begreifbar macht.

Linda Wolf sitzt während unseres Zoomgesprächs an ihrem Schreibtisch. Hinter ihr an der Wand hängt das Bild einer sich verbeugenden Ballerina. Deutet das auf eine schon langjährige Affinität zur Kunstform Ballett hin?

„Nein“, antwortet sie etwas überrascht. „‘Giselle‘ von Demis Volpi war überhaupt das erste Ballett, das ich auf der Bühne gesehen habe. Ich fand das Bild damals einfach so schön. Im Nachhinein betrachtet ist das witzig. Ich hätte nie gedacht, dass Ballett mich so packen könnte.“

Linda Wolf hat in Bochum Theaterwissenschaft und Philosophie studiert und kam über ein Praktikum beim Consol Theater, einem Kinder- und Jugendtheater in Gelsenkirchen, zum Musiktheater. Als Forderungen von Blinden- und Sehbehindertenverbänden im Revier laut wurden, für die Vorstellungen des Musiktheaters Audiodeskriptionen einzuführen, wurde sie gefragt, ob sie sich an diesem Projekt beteiligen wolle. Seither – seit rund 13 Jahren – arbeitet sie als freiberufliche Audiodeskriptorin für Theater im gesamten deutschsprachigen Raum und auch für Film und Fernsehen.

Linda Wolf und Michael Foster bei einer Bühnenbegehung

Was unterscheidet eine Audiodeskription für Schauspiel und Musiktheater von der Deskription eines Balletts?

„Ein Ballett genau in einer Deskription herüberzubringen, ist nicht möglich. Man kann nur versuchen, das Erleben für einen Menschen mit Sehbehinderung so nah möglich an das Erleben eines Sehenden zu bringen. Ziel der Audiodeskription ist, dass man vor dem inneren Auge ein Bild herstellt. Die Beschreibung darf nicht zu technisch sein, weil das kein Bild macht. Dazu muss ich mir zunächst selber Bilder schaffen und sie beschreiben. Weil es häufig so schnell geht, kann man mitunter nicht sehr konkret werden und muss etwas vage bleiben. Wir benutzen einige Fachbegriffe, die wir vorher erläutern, versuchen aber mehr über die Bewegungsqualität zu gehen. Ist jemand ganz steif oder locker, bewegt sich jemand wie eine Blume im Wind? Dabei müssen wir uns auch befreien von der strikten Regel, dass wir nicht interpretieren dürfen, weil eine komplett neutrale Beschreibung von Ballett keinen Gewinn für eine blinde Person hat. Bei Handlungsballetten, die eine Geschichte haben, ist die Deskription einfacher.

Wichtig sind auch Publikumsreaktionen. Manchmal reagiert das Publikum an Stellen, die vielleicht mit dem großen Ganzen nichts zu tun haben. Aber man muss das natürlich trotzdem beschreiben, damit sich die blinden Menschen nicht wundern, warum alle lachen, sie aber den Grund dafür nicht kennen. Wenn mehrere Dinge gleichzeitig geschehen, muss man einen Fokus setzen. Man muss entscheiden, was man weglässt. Spreche ich zu schnell, kommt nichts mehr an. Es müssen sich ja erst Bilder herstellen bei den sehbehinderten Menschen. Das ist ein Preis, den man zahlen muss. Wichtiger ist es, den Fokus dahin zu lenken, wo das Bühnengeschehen hinführen wird. Wenn wir eine Audiodeskription erstellen, ist es daher wichtig, einmal das komplette Stück gesehen zu haben, damit wir wissen, was wichtig wird und wir das beschreiben, was die Handlung voranbringt.

Sobald man in der Audiodeskription etwas erwähnt, bekommt es eine Bedeutung für die sehbehinderten Menschen im Publikum. Was der Sehende vielleicht am Rande wahrnimmt, wird bedeutsam, wenn man es in Worte fasst. Deshalb müssen wir aufpassen, was wir benennen. Wenn da eine superkomplizierte Bewegung ist, die ich total spektakulär finde, die aber innerhalb einer Sekunde wieder weg ist, führt das in die verkehrte Richtung, wenn ich die ausführlich beschreibe. Darauf muss man dann verzichten oder einen Weg finden, es in wenigen Worten zu beschreiben, damit es nicht eine zu große Bedeutung erhält.“

Linda Wolf erklärt das Bühnenbild von „Baal“

Welche Materialien erhalten Sie zur Vorbereitung der Deskription?

„Wir bekommen einen Videomitschnitt der Aufführung, wir bekommen Kostümlisten mit Fotos und Requisitenlisten, haben die Möglichkeit, mit den Dramaturginnen zu sprechen, um Fragen zum Stück zu klären. Das ist beim Musiktheater nicht in dem Maße erforderlich wie beim Ballett. Beim Musiktheater erzähle ich in der Audiodeskription, was ich auf der Bühne sehe. Beim Ballett ist es aber wichtiger, die Intention der Bewegungen zu verstehen, damit ich sie beschreiben kann.“

Wie entsteht dann die Deskription?

„Wir schauen uns das Video Stück für Stück an, überlegen, wie man das beschreiben kann. Dann muss man testen, ob der gesprochene Text an die Stelle passt. Meist führt das zur Kürzung des Textes. Dazu kommt noch die Musik, die auch sehr viel erzählt. Wir versuchen, auch die Musik für sich sprechen und auch mal alleine stehen zu lassen. Etwas vorab zu erzählen und dann eine Zeit zu schweigen, in der sich entfalten kann, was man vorher angekündigt hat.“

Die Wäscheleine stammt aus dem Bühnenbild von „Carmen“

„Wenn ein Teammitglied einen Text geschrieben hat, wird er komplett durchgesprochen mit den anderen Teammitgliedern, also einer weiteren sehenden und einer blinden Person. Die Sehende kontrolliert die Beschreibung des Bühnengeschehens und wir korrigieren gegebenenfalls den Text. Die blinde Person prüft, ob die Beschreibungen bei ihr die gewünschten Bilder entstehen lassen. Wenn das voneinander abweicht, müssen wir eine andere Beschreibung suchen. Wir formulieren dann alle gemeinsam den endgültigen Text.
Diese intensive Vorarbeit ist entscheidend, weil es lange dauert, die optimale Beschreibung zu finden und sie zu timen, damit sie an den richtigen Stellen gesetzt ist und auch zur Musik passt. Das dauert Ewigkeiten. Danach gibt es einen Testlauf, wo wir in der Live-Situation prüfen, ob alles stimmig und nicht zu überladen ist und mit dem Bühnengeschehen übereinstimmt.“

Der fertige Text der Audiodeskription wird dann von Linda Wolf oder ihren Kolleginnen während der Vorführung aus einem Sprecherraum mit Sicht auf die Bühne live eingelesen. Auch hier gibt es also noch die Möglichkeit der schnellen Korrektur, um sich dem Bühnengeschehen exakt anzupassen. Die sehbehinderten und blinden Menschen erhalten den Ton über ein Funksystem direkt auf ihre Kopfhörer übermittelt.

Es muss sich nun zeigen, ob dieses Angebot von der Zielgruppe angenommen wird. Die Probeläufe und ersten Aufführungen mit Audiodeskription in Düsseldorf und Duisburg sind schon erfolgreich gelaufen. Die Reaktionen der blinden und sehbehinderten Menschen waren überaus positiv.

Interessierte finden auf der Webseite der Deutschen Oper am Rhein weitere Informationen über die Teilnahme an Ballettabenden mit Audiodeskription.

Interview und Text: Axel Weiss; Fotos: Daniel Senzek/Oper am Rhein