Im Balletthaus wurde die Erde geküsst.

Arbeitsprobe „A kiss to the world“

Trotzigen Kindern gleich, mit aufgeplusterten Backen, winden sich zehn Tänzerinnen und Tänzer und marschieren dann im Gleichschritt auf das Publikum zu.

Eine Szene aus dem 1. Akt der Choreographie „A kiss to the world“ von Dominique Dumais, mit der die Ballettfreunde gleich zu Beginn der Arbeitsprobe am 5. Januar 2024 konfrontiert wurden.

Dann wieder Gruppenszenen mit 22 Tänzerinnen und Tänzern, die eine lange, die Bühnenbreite ausfüllende Reihe bilden, sich aneinander lehnen, ihre Köpfe auf die Schultern des Nachbarn legen. Dann aber ohne Blickkontakt aufzunehmen, isoliert durcheinander rennen.

Später bilden sich Formationen, die fast wie in einer Revue synchrone Bewegungen ausführen, ihre Jacken (die Probe fand noch ohne Kostüme statt) ein Stück weit öffnen.

Nach der Arbeitsprobe erläuterte Dominique Dumais im Gespräch mit Dramaturgin Julia Schinke ihre Gedanken, die sie zur Bewegungssprache der Choreographie und zu dem Titel „A kiss to the world“ gebracht haben.

„Das Konzept ist, dass wir Menschen zur Natur gehören und die Natur Teil des gesamten Universums ist. Zwischen uns und der Natur und zwischen uns Menschen selbst findet ein Austausch statt, wobei auch wir Teil der Natur sind. Die Natur bewegt sich zu uns und wir sollten uns zur Natur hinbewegen. Das ist der Kuss, der Punkt, wo Mensch und Natur in Kontakt miteinander treten. In der Geometrie gibt es den Begriff der Oskulation. Darunter versteht man die Annäherung oder Berührung zweier Kurven. Das Wort leitet sich aus dem lateinischen Begriff für küssen oder anschmiegen ab. Die Gravitation der Erde führt dazu, dass wir konstant von ihr angezogen werden. Wir müssen sie also ständig ‚küssen‘.“

Im Bühnenbild des 1. Aktes sieht man vorwiegend die grauen Töne des Betons. Das wirkt sehr kalt. Die Tänzerinnen und Tänzer tragen graue Anzüge, die wie eine Rüstung, ein Panzer wirken. Die Bewegungen sind sehr roboterhaft und abgehackt. Es gibt kein Vertrauen, keine Empathie füreinander. Es ist wie in unserem Leben: wir finden keine Zeit uns in die Augen zu schauen, wir bleiben nicht stehen. Alles muss schnell gehen. Der 1. Akt stellt diesen derzeitigen Status Quo dar. Es gibt jede Menge gesellschaftlicher Erwartungen an uns und wir rennen, um sie erfüllen zu können.

Im Laufe des 1. Aktes öffnen die TänzerInnen immer wieder ihre grauen Jacken, die innen rot gefärbt sind. Es kommt also Farbe in die Welt. Am Schluss werden die Jacken ausgezogen und auf einen Haufen geworfen. Ein Akt der Befreiung vom grauen Panzer des alltäglichen Trotts und der Blindheit gegenüber der Natur.

Wir hören das Rauschen von Wasser und sehen Wellenbewegungen. Die Natur unterbricht mit ihrer gewaltigen Kraft das menschliche Treiben, erobert sich die Herrschaft zurück. Gleichzeitig ist das Wasser auch ein Symbol der Reinigung, eines Neuanfangs wie er etwa in der Geschichte von Noah und der Flut geschildert wird.

Im 2. Akt hat sich die Natur die Welt erobert. Das Bühnenbild ist farbig geworden. Pflanzen ranken sich an den Wänden. Die Menschen haben nun die Möglichkeit, sich in die Natur einzufügen.

Dominique Dumais erläutert Bühnenbild und Kostüme

„Es gab im kreativen Team lange Diskussionen darüber, welche Jahreszeit der Natur das Bühnenbild darstellen sollte. Frühling, Sommer oder Herbst? Wir stimmten dann überein, dass Herbst die aussagekräftigste Jahreszeit ist. Im Herbst kommen quasi alle Jahreszeiten zusammen. Die Natur ist noch prachtvoll, aber die ersten Blätter fallen schon und die kommende Kälte des Winters deutet sich an. Der Herbst hat etwas Nostalgisches. Im Englischen nennt man den Herbst auch ‘Fall’. Das deutet darauf hin, dass uns Dinge verlassen. Sie fallen, vergehen und werden Teil des ewigen Zyklus.
Wenn wir uns der Natur öffnen, werden wir verletzlich. Wenn wir uns als Teil der Natur akzeptieren, dann akzeptieren wir auch unsere Vergänglichkeit, unsere Sterblichkeit. Die gehört zum Zyklus in der Natur. Insofern können wir auch den Tod feiern, weil er zum natürlichen Leben gehört.“

Aus dem 2. Akt stammen die beiden Pas de Trois, die ein (wieder gewonnenes?) Vertrauen der Menschen zueinander aufzeigen sollen.

Doris Becker, Miquel Martínez Pedro, Kauan Soares
Edvin Somai, Wun Sze Chan, Joaquin Angelucci

Die musikalische Leitung des Abends hat Katharina Müllner. Im Gespräch mit Julia Schinke schilderte sie anschaulich, welchen Unterschied es für die Musiker des Orchesters und für sie macht, ob eine Oper, ein Konzert oder eben ein Ballettabend mit Stücken von ganz unterschiedlichen Komponisten – von klassisch bis zeitgenössisch – geprobt und gespielt werden muss.

Julia Schinke, Katharina Müllner, Dominique Dumais beim Gespräch

Über die Musik, die in „A kiss to the world“ zu hören ist, sagte sie:

„Man kann die Musik in drei Abteilungen teilen. Einmal die Schmankerl der Musikgeschichte: Mozart, Beethoven, Händel und Haydn. Der zweite Teil besteht aus zeitgenössischen Werken von Aleksandra Vrebalov. Keine Angst davor haben! Es klingt alles sehr wohlig und passt wunderbar zum Tanz. Dann gibt es drittens noch Einspielungen von Naturgeräuschen und zwei Songs des kanadischen Sängers Patrick Watson.“

Nach der Arbeitsprobe wurde im fast überfüllten Foyer des Balletthauses mit den Mitgliedern der Compagnie auf das Neue Jahr angestoßen.

Da Weihnachten bekanntlich noch nicht lange vorbei (oder besser: lange noch nicht vorbei) ist, wurden dem Sprecherteam der Compagnie – Doris Becker und Philip Handschin - die Weihnachtsgenschenke der Ballettfreunde überreicht. Schwarze T-Shirts mit dem Logo der Deutschen Oper am Rhein und jeweils den Initialen der künftigen TrägerInnen.

Aufgrund einer Verzögerung bei der Produktion konnte leider vorerst nur das Sprecherteam beschenkt werden. Die anderen Tänzerinnen und Tänzer werden auf ihre Shirts etwas warten müssen. Aber die Vorfreude darauf ist sicherlich riesig groß.

Infos:

Dominique Dumais ist Direktorin der Tanzcompagnie am Mainfranken Theater Würzburg. Sie stammt aus Kanada, wurde an der National Ballet School in Toronto ausgebildet und war Solistin beim National Ballet of Canada. Sie arbeitet schon lange für und an deutschen Bühnen, etwa das Stuttgarter Ballett, das Stadttheater Augsburg, das Nationaltheater Mannheim oder die Tanzcompagnie Gießen.

In einem Artikel über sie in „Oper und Tanz 2020/2021“ heißt es:

„Ich war Ballerina, das ist komplett in meiner DNA“, sagt Dumais. Als Choreografin und Direktorin hat sie sich dennoch vom klassischen Ballett weitgehend gelöst. „Dass der höchste Ausdruck von Schönheit im Ballett liegt, stimmt für mich so nicht mehr“, sagt sie und greift zum anschaulichen Vergleich: Eine Frau müsse keine High Heels tragen, um schön zu sein. Contemporary spreche mehr aus der Zeit heraus, in der wir lebten. Zeitgenössischer Tanz könne tiefe Einblicke in die menschliche Natur gewähren. …
„Ich will nicht alles kontrollieren, ich will, dass die Tänzerinnen und Tänzer Individuen bleiben“, erklärt Dumais einen ihrer zentralen Werte. Eine Rolle spielen dabei immer wieder Improvisationselemente. „Lässt man es zu, dass die Tänzerinnen und Tänzer aus gewohnten Bahnen ausbrechen, sieht man auch als Choreografin neue Dinge, jenseits von Klischees.“

Über Katharina Müllner heißt es auf der Homepage der Oper am Rhein u.a.:

„Katharina Müllner studierte Dirigieren, Musikerziehung und Psychologie/Philosophie in ihrer Heimatstadt Wien. Nach dem Studium wurde sie ans Landestheater Linz engagiert.

Seit der Spielzeit 2020/21 ist sie freischaffend tätig. Seitdem gab sie erfolgreich ihr Debüt am Theater St. Gallen und an der Wiener Volksoper.

Weitere Dirigate führten sie an die Deutschen Oper am Rhein, die Kammeroper Wien, zur Robert Schumann Philharmonie sowie zum Sinfonieorchester Wuppertal. Am Deutschen Nationaltheater Weimar übernahm sie kurzfristig die Premiere von „Carmen“.

In der Spielzeit 2022/23 kehrt Katharina Müllner u.a. an die Deutsche Oper am Rhein, das Theater St. Gallen und zum Sinfonieorchester Wuppertal zurück und wird am Pult des Philharmonischen Orchesters Coburg, der Brandenburger Symphoniker und am Theater Essen mit „Carmen“ zu sehen sein.
Für das Ballett am Rhein übernahm sie die Musikalische Leitung für „Krabat“ in der Spielzeit 2022/23.“

Die Premiere zu „A kiss to the world“ findet am 20. Januar 2024 im Opernhaus Düsseldorf statt.
Weitere Termine:
26. Januar 2024, 19:30 Uhr
08. Februar 2024, 19:30 Uhr
11. Februar 2024, 18:30 Uhr
17. Februar 2024, 19:30 Uhr
18. Februar 2024, 15:00 Uhr
23. Februar 2024, 19:30 Uhr (mit Audiodeskription)
24. Februar 2024, 19:30 Uhr

Eine öffentliche Ballettwerkstatt gibt es am 17. Januar 2024 ab 18:00 Uhr im Opernhaus.

Weitere Informationen zu „A Kiss to the World“

Text: Axel Weiss; Fotos: Renate Weber-Zangrandi, Erich Kutzera